, Marianne Bürki

Blind vertrauen

Der Text von Marianne ist in der Juli 2023-Ausgabe des Magazins "Ethik22" erschienen

Mein Vertrauen im Leben ist allgemein gross, gestützt durch Erfahrungen, immer wieder neu gestärkt und genährt von positiven Begegnungen, Umständen und für mich günstigen Bedingungen. Vertrauen ins Tandemfahren als blinder Mensch basiert auf denselben Grundpfeilern. Es braucht Grundvertrauen in die Sache und in den Menschen, der sich mit mir auf Fahrt begibt. Viel läuft über das Gefühl, das ich diesem mich pilotierenden Menschen gegenüber habe. Menschenkenntnis, Menschenerfahrung und Intuition sind wichtig. Dann gehört einfach auch Mut dazu, es hilft, die eigene Kraft zu spüren. Meine Ausstrahlung auf den andern ist auch wichtig. Wir müssen ein Vertrauensnetz aufbauen, gut kommunizieren, Unsicherheiten mitteilen: Wie man sich fühlt, wo man im Moment steht. Ich erinnere mich an meine erste Tandemfahrt. Sie war mit einem befreundeten Tandempiloten, der mich auch allgemein oft begleitet, den ich gut einschätzen kann. Das war schon ein Vorteil! Trotzdem war ich etwas angespannt, etwas unsicher. Dies hat sich aber auf der Fahrt nach und nach gelegt.
Wenn man sehbehindert wird, ist Vertrauen ein ganz grosses Thema. Das ist ein nicht ganz einfaches Kapitel. Es hat zu tun mit Kontrolle abgeben, mit sich machen lassen, sich in fremde Kompetenz geben. Für autonome Menschen, selbständige, selbstbestimmte, ist das oft schwierig. Da brauchts einfach «blindes Vertrauen», sich hingeben, sich ANvertrauen. Ich versuche immer zu vermitteln, auszustrahlen, dass ich meine Persönlichkeit wahre, meine Kraft und Stärke behalte, dass ich auch Grenzen ziehe, wenns zu «übergriffig» wird, mir die Nähe unangenehm wird. Auch hier gilt: Kommunizieren! Vertrauen kann man auch lernen, das ist ein Training, ein durch Situationen sich anpassen / hinein versetzen / Strategien zurechtlegen. Urvertrauen kann man nicht wirklich erlernen, wenn das nie gelegt wurde. Aber eine Art Alltagsvertrauen, «Gebrauchsvertrauen», das kann man durchaus üben. Sich z.B. gewisse Standards aneignen, wie ich Menschen anspreche, wenn ich Hilfe brauche, wie ich Menschen begegne, denen ich mich eben anvertrauen MUSS. Dafür ist ein Grundstock an SELBSTvertrauen, an eigener Stärke, Kraft und Mut notwendig. Ich werde grundsätzlich so behandelt, wie ich wahrgenommen werde. Wenn ich mir also selbst vertraue, mein Potenzial kenne und einigermassen im Griff habe, überträgt sich das auf mein Gegenüber.
Für mich heisst Vertrauen haben grundsätzlich: Ein Restrisiko habe ich, dass etwas schief geht, aber ich vertraue zum Voraus in die Sache und in die Mitmenschen. Diesen Vertrauensbonus vergebe ich jeden Tag, wenn ich mich im öffentlichen Raum befinde. Ein Beispiel: In einem Geschäft habe ich mich verlaufen, bin durch verschiedene Gänge geirrt, hab den Lift gesucht, bin beim Eingang der Tiefgarage gelandet. Da hat ein junger Mann offenbar meine Situation erkannt. Es war ein langer, leerer Gang, der Mann roch stark nach Alkohol und sprach mich an. Ich habe meinem Herzen einen «Mupf» gegeben, ihm erzählt, ich hätte mich verlaufen, fände den Ausgang nicht mehr. Er hat mich einfach an der Hand genommen und ohne grosse Worte zum Ausgang begleitet. Mein Herzklopfen war wohl meilenweit zu hören gewesen! Ich hatte Einkäufe,Portemonnaie, Hausschlüssel, alles in der Tasche, er hätte nur zugreifen müssen. Beim Ausgang habe ich mich sehr bedankt, er sagte nur, zu helfen sei für ihn selbstverständlich, und verschwand. Ich hatte noch lange ein bisschen «Knieschlotter», gleichzeitig war ich berührt und gerührt über diese Begegnung, da spielte einfach blindes Vertrauen die Hauptrolle!

Schlüsselsatz: «Vertrauen ist für mich eine Kombination aus rationalen Überlegungen und emotionalen Erfahrungen.»